
Abenteuerliche Runde durchs Valle Gran Rey
Circa 23 Kilometer und 750 Höhenmeter

ACHTUNG: Die Tour bitte nicht so nachlaufen, sondern nur in umgekehrter Richtung. Auf kein Fall bei schlechtem Wetter. Hier sind bereits Menschen tödlich verunglückt.

Nachdem ich mir nach einer schweren Mittelohrentzündung zuletzt nur eine kleine Wanderung zugetraut habe, fühle ich mich heute endlich wieder fit genug für eine längere Tour. Eigentlich sollte ich schon zurück in Deutschland sein, aber da ich am Rückflugtag noch nicht wieder flugtauglich war, bleibe ich noch eine Woche länger. Den Mietwagen habe ich wie geplant abgegeben, weshalb ich in der Routenplanung etwas eingeschränkt bin. Aber ich wollte ohnehin schon länger einmal die unmittelbare Umgebung im Valle Gran Rey erkunden, das ist also die ideale Gelegenheit dafür.

Ich starte meine Rundtour direkt von der Haustür aus. Ausgerüstet mit Bambusstab, Wasser, ein wenig Proviant und Laufschuhen. Die Wanderschuhe habe ich in Deutschland gelassen, zu schwer. Das werde ich im Laufe des Tages noch bereuen. Bei der Routenplanung mit komoot habe ich vor allem nach der Länge geplant. Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit habe ich diesmal nicht nach Bewertungen anderer Wanderer geschaut. Ungefähr 15 Kilometer, so geplant, dass ich gegen Ende der Wanderung abends unten im Ort etwas essen kann. Ich sehe noch, dass ähnliche Touren alle in umgekehrter Richtung verlaufen, denke mir aber nichts dabei. Die meisten Touristen wohnen unten im Ort, da spielt die Richtung für die Abendessensplanung keine Rolle.

Also los. Von Casa de la Seda aus starte ich, entlang der ausgeschilderten Wege talaufwärts. Zwischen den Häusern und Gärten hindurch, über gepflasterte Wege und Treppen. Immer wieder raschelt es, und Eidechsen die zuvor träge in der Sonne lagen, huschen durch meine Schritte aufgeschreckt davon.
Ich lasse die Häuser hinter mir, und der Weg wird steinig und ist stellenweise voller losem Geröll. Ich bin froh um meinen Bambusstab. Mit Wanderschuhen wäre es sicher besser, aber meine Laufschuhe sitzen gut. Allerdings bin ich froh, diesen Weg hangaufwärts zu laufen. Es geht noch eine Weile bergauf.

Als ich bei der Degollada de Cerrillal den Kamm des vorgelagerten Hangs passiere, komme ich an einer Gruppe Wanderer vorbei, die im Schatten rasten. Sie sprechen über den Weg, darüber, dass es eine der abenteuerlichsten Routen der Insel sei und nur in eine Richtung gelaufen wird. Ich frage mich, ob sie über meine geplante Strecke sprechen, schließlich gibt es viele Wege hier. Bisher finde ich die Strecke schon etwas fordernd, aber nicht übermäßig. Da bin ich schon ganz andere Wege gelaufen. Aber da es sich bei den Wanderern um Senioren im fortgeschrittenen Rentenalter handelt, schiebe ich das auf altersbedingte Unterschiede in der körperlichen Leistungsfähigkeit und denke nicht weiter darüber nach.

Nach einem kurzen ebenen Stück gibt es noch einmal einen Aufstieg durch felsige Gelände. Kurz bevor den höchsten Punkt der Tour erreiche, mache ich eine Pause. Ein Felsbrocken im Schatten des Hangs bietet eine willkommene Sitzgelegenheit. Ich merke, dass meine Kondition durch die zwei Wochen erzwungener Bettruhe etwas gelitten hat. Hier, im Schatten des Hangs, von der vorgelagerten Hügelkette vom Haupttal abgeschirmt, ist es ruhig. Keine Menschen, keine Autos, kein Zivilisationslärm. Nur Vögel und Insekten sind zu hören. Ich fühle mich wie der einzige Mensch auf der Welt. Im Schatten ist es angenehm, aber die Sonne brennt. Nur mit kurzer Hose und Top unterwegs, Anfang März, in der Sonne schwitzend – das fühlt sich surreal an. Ich bin in meiner eigenen kleinen Welt. Zuhause, so erfahre ich später, nimmt das Thema Corona gerade Fahrt auf, Klopapier ist bereits ausverkauft. Hier ist nichts davon zu spüren.
Ich laufe weiter, nehme die letzten Höhenmeter und passiere den Ort Gerian. In der Mittagshitze wirkt er wie ausgestorben. Aber ich glaube auch nicht, dass hier sonst viel los ist. Die paar Häuser einen Ort zu nennen kommt mir etwas albern vor, aber immerhin findet sich der Name Gerian auf der Karte.

Dann beginnt der Abstieg. Ein steiniger Weg, gesäumt von Kakteen und Aloe. Die aufgeheizt Felsen, die vor Hitze flirrende Luft, die – bis auf das Zirpen der Insekten – drückende Stille, das alles fühlt sich fast ein bisschen nach Wilder Westen an. Fast erwarte ich, eine Gruppe berittener Indianer hinter der nächsten Hügelkuppe auftauchen zu sehen.

Die auf der ganzen Insel allgegenwärtige Terassenstruktur findet sich auch hier wieder. Diese Struktur bewirkt, dass ich ganz in Gedanken und in die Schönheit der Natur versunken dem falschen Mäuerchen folge. Als es mir auffällt muss ich ein ganzes Stück zurückgehen, bis ich den Weg wieder finde. Auf den nächsten Kilometern konzentriere ich mich ganz auf den Weg, und muss trotzdem an einigen Stellen suchen. Als ich mich umdrehe, stelle ich fest, dass der Weg bergauf dank Markierungen deutlich besser erkennbar ist. Ich erinnere mich an die Bemerkungen der anderen Wanderer, mache mir aber keine allzu großen Sorgen. Für ein Abenteuer bin ich eigentlich immer zu haben.

Je weiter ich komme, desto weniger ist der Weg als solcher zu erkennen. Ab und zu entdecke ich von anderen Wanderern aufgehäufte Steinmännchen, an denen ich mich orientieren kann. Immer wieder muss ich anhalten und nach dem Weg suchen. Teilweise führt mich der Weg gefährlich nach am Abgrund entlang. Ein falscher Schritt kann hier lebensgefährlich sein. An manchen Stellen geht es senkrecht hinunter, so dass ich meinen Stab auf den nächsten Absatz fallen lassen muss, und rückwärts herabklettere. Einige dieser Stellen erfordern vollen Einsatz der Arme beim Klettern. Als ich mich seitlich um einen vorstehenden Felsvorsprung winde, und mich dabei mit beiden Händen an dem Vorsprung festhalte, um nicht in den darunter gähnende Abgrund zu stürzen, wird mir doch etwas mulmig. Vielleicht hätte ich den anderen Wanderern mehr Beachtung schenken sollen.

Doch es ist zu spät um umzudrehen. Die Sonne steht schon tief. Mir ist klar, wenn ich es nicht rechtzeitig vom Berg schaffe, muss ich hier oben übernachten. In der Dunkelheit wäre der Abstieg extrem gefährlich. Wie zur Bestätigung komme ich auf dem losen Geröll ins rutschen. Ich kann mich gerade noch fangen, bevor ich über die Kante stürze. Ich bin schlecht im schätzen, aber es geht verdammt tief runter. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das jemand überleben würde. Ich wünsche mir, ich hätte meine Wanderschuhe an.
Aber es hilft nichts, ich muss weiter. Es wäre eine ziemlich kalte und ungemütliche Nacht hier oben. Außerdem wird mein Wasser knapp. Ich bin schon seit einer Weile durstig, versuche mir den Rest aber einzuteilen. Die Strecke ist definitiv länger als 15 Kilometer, und dass der Abstieg so anstrengend wird, hab ich nicht erwartet. Aus dem Höhenprofil war das jedenfalls nicht ersichtlich. Eine schlaflose Nacht am Hang, frierend und durstig – keine gute Idee.

Also weiter. Für eine Weile ist der Weg besser erkennbar, doch dann gerate ich wieder an eine uneindeutige Stelle. Ich folge zunächst dem falschen Weg, doch irgendwann komme ich nicht mehr weiter. Ich kehre um, und versuche anhand der Karte festzustellen, wo ich falsch gelaufen bin. Ich probiere mehrere vermeintliche Wege, doch sie alle enden im Nichts. Die Richtung, in der laut komoot der Weg verläuft, sieht nicht gut aus. Ein Steilhang, sehr steil, überzogen mit Geröll. Und darunter der Abgrund. Das kann nicht der Weg sein. Viel zu gefährlich.
Ich suche weiter nach Alternativen, doch als ich nach 20 Minuten immer noch nicht fündig geworden bin, sehe ich ein, dass das der Weg sein muss. Kurz überlege ich, ob ich nicht doch lieber umkehren und die Nacht auf dem Berg verbringen soll. Aber dann reiße ich mich zusammen und wage den Abstieg. Behutsam taste ich mich voran, zentimeterweise. Bloß nicht zu viel Schwung aufnehmen, zwischen mir und dem Abgrund ist nichts, was mich stoppen könnte, sollte ich ins rutschen geraten.

Nach einer halben Ewigkeit wird die Steigung flacher und ein Pfad erkennbar. Ich bin schweißgebadet und versuche, nicht darüber nachzudenken, wie gefährlich das gerade war. Als ich nach oben schaue, sehe ich auch die gelben Markierungen, die den Weg in die andere Richtung kennzeichnen. Wenigstens bin ich richtig. Ich trinke den letzten Rest meines Wassers und hoffe, dass das kein Fehler war.
Glücklicherweise verliere ich den Weg kein weiteres Mal. Das ein oder andere Mal muss ich zwar suchen, aber ich merke es jedes Mal rechtzeitig, bevor ich in die Irre laufe. Es gibt noch die eine oder andere brenzlige Stelle, und ich muss mich höllisch konzentrieren, um nicht zu stolpern. Nach einer halben Ewigkeit wird der Pfad endlich zum Weg. Ich bin heilfroh. Als die Straße zur Playa de Argaga in Sicht kommt bin ich erleichtert. Ich laufe schneller, mein Durst treibt mich voran. Als ich das Hafenviertel erreiche kaufe ich mir im ersten Laden zwei Liter Wasser, die ich in kürzester Zeit leere. Jetzt erst kann ich wirklich durchatmen. Was für ein Abenteuer! Jetzt habe ich mir das Abendessen wirklich verdient, bevor ich die letzten Kilometer nach Hause an der Straße entlang in Angriff nehme.
